PROBE B
EIN NEUES LEBEN
(...)
Endlich war es soweit. Antonia saß ein wenig zittrig in dem Patientenzimmer ihres Arztes Dr. Mooser und wartete darauf, dass er zu ihr hineinkommen würde. Sie hatte lange auf diesen Moment gewartet, in dem er ihr endlich sagen konnte, dass sie in die USA zu ihren Eltern fliegen dürfe. Als sie vor drei Jahren erfuhr, Eierstockkrebs zu haben, hatte sich der Erdboden unter ihr aufgetan. Sie fühlte sich so allein und einsam wie noch nie zuvor in ihrem Leben.
Sie dachte an ihre Mutter. Wenn sie ehrlich zu sich selber war, müsste sie zugeben, dass sie sich nie besonders gut mit ihr verstanden hatte. Sie waren niemals wie zwei Freundinnen oder Verbündete gewesen. Zudem hatte sie es in den vergangenen Jahren nur zwei Mal geschafft, zu ihren Eltern in die Staaten zu fliegen. Ihr Vater war Amerikaner, und seit fast zwanzig Jahren lebten ihre Eltern in Colorado. Doch als ihre Mutter am Telefon von ihr erfuhr, dass sie Krebs hat, sagte sie nicht: „Komm sofort zu uns, Schatz.“ Und ihre erste Reaktion war auch nicht: „Ich komme sofort zu dir.“
Warum hatte sie diesen so wichtigen Satz damals nicht ausgesprochen? Ihre Mama war doch immer so lieb gewesen, hatte ihr schöne Pakete geschickt, sie jede Woche angerufen, sich nach ihrem Wohlbefinden erkundigt, aber dann? Dann, als es ihr plötzlich schlecht ging, hörte ihre Mutter schlagartig auf, Mutter zu sein. Ihre Mama war nicht mehr für sie da. Es gab keinen Partner, und nicht einmal Mama gab es. Aber warum? Warum? Bis heute hatte sie sich nicht getraut, ihre Mutter darauf anzusprechen. Sie hatte es nicht gewagt zu fragen: „Warum Mama, bist du nicht im schlimmsten Moment meines Lebens zu mir gekommen?“
Antonia musste sich schmerzhaft eingestehen, dass sie sich auf diese große Entfernung wohl nur vorgemacht hatte, eine gute Beziehung mit ihrer Mutter zu führen. Etwas später, ein paar Tage nach dem ersten Schock, wollte ihr Vater am Telefon wissen, ob sie nun zu ihr fliegen sollten. Sie wollte es, sagte aber Nein. Sie war so verletzt wegen ihrer Mutter und gleichzeitig so stolz. Wenn es für ihre Mama nicht selbstverständlich gewesen war, gleich, sofort zu ihr zu reisen, dann bräuchten sie gar nicht mehr auftauchen. Sie brauchte ihre Eltern nicht mehr. Das redete sie sich von dem Moment an ein. Und sie brauchte schon gar nicht ihre Mutter.
Sollte sie etwa mit Mitte dreißig auf einmal um Hilfe bei ihrer Mutter schreien? Nein, das hatte sie nicht nötig. Mit beinahe Mitte dreißig schrie man nicht mehr um Hilfe. Und schon gar nicht weinte man um die eigene Mutter, die einem brutal das Gefühl vermittelte, mutterseelenallein zu sein. Die sie alleine zurückließ, nur mit ihrer Einsamkeit, Leere und Angst. Angst davor zu sterben.
Auch Marco hatte sie kurz zuvor verlassen. Ihre Freunde behielten mal wieder Recht. Der Abenteurer hatte ihr Herz gebrochen. Und ihr langjähriger Freund Frank war damals der Allerletzte für sie gewesen, zu dem sie hilfesuchend zurückgekrochen wäre, nachdem sie ihn mit Marco betrogen hatte und er ihre Beziehung darauf für immer beendete.
„Ich will dich nie, nie, niemals wieder sehen“, hatte Frank, der Gehörnte, ihr zum Abschied gesagt. Und sie musste schreien vor Schmerz. Nicht, weil Frank sie verließ. Nein, wegen ihrer Sehnsucht nach Marco, den sie liebte, aber der keine Beziehung mit ihr festgeklopft hatte. Wahrscheinlich hätte sie ihm damals mitteilen müssen, dass Frank sich nur aufgrund ihrer Affäre von ihr getrennt hatte. Aber auch dafür war sie zu stolz gewesen. Sie war eine Prinzessin gewesen. Sie wollte, dass Marco um sie kämpfte. Aber wie sollte er um sie kämpfen, wenn er doch gar nicht wusste, dass sie plötzlich frei war? Er konnte keine Gedanken lesen. Warum nur hatte ihre Logik es ihr verboten, Marco wiederzusehen und ihm aufrichtig mitzuteilen: „Mit Frank ist Schluss. Ich bin jetzt frei für dich. Ich will dich noch. Und wenn du mich auch noch willst, dann ... Dann lass uns jetzt aus der Affäre eine richtige Beziehung machen.“
Warum nur, warum hatte sie das nicht fertig gebracht? Stattdessen hatte sie sich verkrochen und geglaubt, dass kein Mann sie jemals mehr lieben würde.
Und auf einmal sagte ihr ihre Gynäkologin: „Bitte, Frau Goldbrunner. Sie müssen ihr Blut nun auf Tumormarker untersuchen lassen. Die Biopsie der Geschwulst an ihrem Eierstock war positiv. Krebszellen.“ Was für ein Schock!
Dr. Mooser trat ein, brachte einen ganzen Stapel Ordner und Dokumente mit und erschien recht vergnügt. Antonia atmete auf und machte sich klar, dass das jetzt ein gutes Zeichen sein müsse, dass Dr. Mooser so gelöst erschien. Zum ersten Mal nach langer Zeit begrüßte sie die Gegenwart. Der Arzt setzte sich in seinen Ledersessel ihr gegenüber und lächelte.
„Herzlichen Glückwunsch, Frau Goldbrunner“, sagte er feierlich. „Ihr erster Sieg über den Krebs. Die Blutwerte sind stabil. Drei Jahre sind rum. Sie haben die Halbzeit überschritten. Damit sieht es jetzt wirklich sehr sehr gut für Sie aus.“
Antonia schossen die Tränen vor Glück in die Augen.
„Weinen Sie ruhig.“ Der Arzt sah sie mitfühlend an.
(...)
„Spaß haben!“, erklärte ihr Arzt weiter. „Unter Leute gehen! Männer! Die Liebe, meine Gute!“ Erst jetzt ließ er ihre Hand los.
„Ich versteh“, log Antonia mit halber Stimme und traute sich in diesem Moment nicht, ihre Freundin anzugucken, die ihr das schon lange predigte.
„Halten Sie jetzt noch zwei Jahre durch, dann sind Sie gesund!“ Er lächelte warm.
Antonia nickte wieder. Jetzt sah sie Stephanie an. Ihrer Freundin liefen die Tränen wie Sturzbäche die Wangen hinab. Tröstend umarmte sie noch mal Stephanie.
„Hast du gehört?“, stotterte Stephanie schniefend.
Antonia nickte abermals. Ja, sie wollte leben! Aber wie sollte sie ihrem Arzt und ihrer Freundin erklären, dass sie wirklich nicht mehr wusste, was Leben bedeutete. Wie ging das: wieder leben?
Mit Sekt und Prosecco-Flaschen beladen, kamen Antonia und Stephanie am Abend nach Hause. Antonia dachte an Yvette. Im Gegensatz zu ihr lebte sie auf der Sonnenseite und konnte das pulsierende Leben tagtäglich fühlen. Es verstrich keine Woche, in der ihre Freundin nicht zum Nordic Walking-Kurs ab 60, zum Schwimmen ab 60, in den Skatclub “Alter Peter“ oder in die Oper (nicht ab 60) ging. Im Treppenhaus wurden sie bereits von den Freunden erwartet. Auch Matthias, Stephanies Ehemann, drückte Antonia vor Erleichterung. Antonia nahm Benjamin, Stephanies sechsjährigen Sohn, hoch in ihre Arme.
„Du stirbst nicht mehr, oder?“, fragte er sie. „Nie mehr, oder?“
„Niemals! Ich bin unsterblich!“, antwortete Antonia glücklich.
„Papa, Antonia ist unsterblich.“
Matthias lächelte. „So, ich bring dich jetzt ins Bett!“ Er wollte Benjamin aus Antonias Arm zu sich ziehen, doch der Junge wehrte sich. „Nein, ich feier jetzt mit Antonia.“
„Erst aufräumen, dann feiern!“, mischte sich Stephanie streng ein.
Antonia drückte Benjamin gegen seinen Widerstand seinem Vater in den Arm. „Hör mal, Spatz.“ Sie knuddelte ihn. „Am Wochenende gehen wir beide in die Hüpfburg. Nur du und ich. Oder du kannst auch noch einen Freund mitnehmen. Ich lad dich ein. Versprochen!“
„Okay.“ Benjamin war plötzlich ganz brav. Sein Vater nahm ihn an die Hand.
„Und die roten von den blauen Duplosteinen trennen“, kommandierte Stephanie noch.
Antonia beugte sich zu dem kleinen Jungen und sie rieben ihre Nasen aneinander. „Nasi, Nasi, Nasi“, schnurrten sie.
Im nächsten Moment kam Caroline, Stephanies Tochter, von unten die Stufen hoch. Sie war grell geschminkt und hatte Hotpants und Sandalen mit einem hohen Korkabsatz an. Antonia schielte vorsichtig zu Stephanie. Es war klar, dass dieser leicht ordinäre Aufzug Carolines ihrer Freundin entschieden gegen den Strich ging.
„Wo kommst du her?“, zischte Stephanie auch sofort.
Caroline dachte nicht daran, ihre Kopfhörer aus den Ohren zu nehmen. „Wieso?“, brüllte sie. „War nur bei Flo, seine Gehirnprothese ausleihen. Für Mathe morgen.“
„In diesem Aufzug? Und was bitte ist eine Gehirnprothese?“ Stephanies Ton war scharf. Flo war der siebzehnjährige Nachbar Florian, den Stephanie schlicht zu alt für ihre Tochter fand.
„Mama. Chill mal!“, schrie Caroline. „Ein Taschenrechner! Und jetzt lass mich! Oder willst du nicht, dass ich noch lerne?“
In ihrer Wohnung streifte Antonia sich ihre Pumps von den Füßen und legte Jazz-Musik auf. Sie hatte lange den Klang von Blasinstrumenten vermisst. Dann versammelten sich die Freunde um den Wohnzimmertisch und stießen an. Die Fotos der Ex-Freunde lagen mitten auf dem Tisch. Antonia fühlte sich angenehm leicht. Ein Blick zu Stephanie sagte ihr, dass ihre Freundin immer noch wegen des sexy Outfits ihrer Tochter schmollte.
„Nun gut, Schatzi. Du hast nicht mehr viel Zeit“, begann Alexander. „Nur wenige Wochen bis zu deinem Abflug. Wen von den Boys willst du nun zuerst treffen?“
Antonia nahm einen großen Schluck Prosecco, antwortete nicht. Sie strauchelte. Yvette legte fürsorglich ihre Hand auf Antonias Arm. „Liebchen. Ich sagte ja schon. Ich regel’ das für dich. Lass mich ma machen ...“
„Himmel!“, insistierte Stephanie. Sie sah erst Yvette und dann Antonia an. „Kannst du dich nicht ein Mal amüsieren? Ein Mal aus dir rausgehen?!“
Antonia überlegte, wie ihre Freundin es wohl verkraften würde, wenn sie gar nicht mehr aus den USA zurückkommen würde.
„Ihr Süßen ...“, unterbrach Yvette die Runde. „Jetzt machen wir aber mal Nägel mit Köpfen!“ Sie sah Antonia forsch an. „Wen von den Ex-Lovern rufst du also zuerst an? Christoph, den Sex-Magier? Oder Daniel, den schizophrenen Maler?“
Antonia hatte Mühe, von ihren Gedanken in die Realität umzuschalten. „Ich weiß nicht“, stotterte sie. „Vielleicht Marco?“
Stephanie hob ihr Glas, die anderen und Antonia ebenso. „Auf unsere Antonia“, verkündete sie und gab Antonia einen Kuss auf die Wange. „Bleib gesund! Und lass das Leben in die Bude, Kind!“ Sie küsste Antonia auf die andere Wange. „Geh unter Leute! Auf dich!“ Sie stießen alle miteinander an und blickten sich dabei tief in die Augen.
„Wie heißt dieses Sprichwort?“, fragte Yvette: „Alte Liebe rostet nicht?! Ich bin mir sicher, einer deiner Ex-Lieben wartet insgeheim auf dich.“
Antonia lachte. „Niemals!“
„Wie war das mit dem Leben?“, fiel Alexander ein: „Du wirst sehen. Diese Wiederbegegnungen mit den Lovern lassen alte Gefühle bei dir aufkommen. Und Gefühle zu haben, bedeutet, zu leben. Oder etwa nicht?“
„Du wirst auch wieder Lust auf Sex bekommen, Kindchen“, fügte Yvette hinzu und gackerte.
„Orgasmen verlängern das Leben“, wusste Stephanie.
„Genau!“, bestätigte Alexander und wieherte wie ein Pferd.
„Oh, ihr seid so schlimm!“, rief Antonia, war aber durch den Alkohol locker geworden und musste plötzlich auch lachen.
„Ja. Orgasmen verlängern das Leben!“, beteuerte auch Yvette. „Wie soll ich sonst hundert werden!?“ Alle lachten.
„Aber wirklich“, beharrte Antonia. „Sex interessiert mich so was von gar nicht!“
„Na, wir werden ja sehen“, gackerte Yvette wieder. „Prösterchen!“
Antonia dachte an ihre Narbe. Sie hätte diesem Kunden neulich, diesem Oliver mit dem Aussteiger-Tick, mal ihre Narbe zeigen sollen. Dann wäre der noch verschreckter gewesen. Jeder Mann wäre abgestoßen, wenn er so eine Narbe sehen würde. Unten am Bein, okay. Aber da, mitten auf ihrem einst so wohlgeformten Bauch? Kein Mann hätte da noch Lust, sie anzufassen. Sie war einfach ekelig.
(...)