PROBE A

NOCH NICHT BEGRABEN (AT)

 

 

(...)

Am nächsten Morgen, als das Leben am Rhein und ein neuer Tag erwachte, hatte Katrin einen dicken Kopf. In der Düsseldorfer Altstadt wurden die ersten Rolläden hochgezogen, Tische und Stühle in den Fußgängerzonen aufgebaut. Und Katrin schlug auf ihren bimmelnden Wecker ein. Sie musste aufstehen und arbeiten gehen. Aber sie konnte nicht. Ihre Wohnung war unordentlich. In der Küche türmte sich der Abwasch vom Vortag. Im Badezimmer quoll der Wäschekorb über. Sie zündete sich eine Zigarette an, musste husten. Nein, sie konnte Anton Hagen heute nicht ertragen. Sonnenstrahlen fanden ihren Weg durch die Gardinen mitten in ihr Gesicht. Stöhnend drehte sie sich zur Seite. Sie dachte an Maik.

Sie wälzte sich hin und her und schließlich aus dem Bett, schleppte sich zum Telefonapparat und rief ihren Chef an. Sie war krank.

Doch Anton Hagen glaubte ihr nicht. Shit! Sie sollte kommen. Quickly!Auch wenn sie zu spät war. Hauptsache, sie käme. Hatte sie nicht auch eine ganze Menge Kunden, Termine heute? Katrin beharrte, sie sei aber doch krank, sie hätte Fieber. Grippe. Sommergrippe. Anton Hagen glaubte ihr nicht. Sie sei unzuverlässig, und er drohte ihr mit der Kündigung. Darauf musste Katrin lachen, behauptete, er würde ihr damit einen Gefallen tun.

„Ja, supi! Endlich arbeitslos!“

Jetzt war Anton Hagen sprachlos. Es ging hin und her. Er warf ihr vor, zu sprechen, bevor sie denken würde. Katrin aber bestand weiter darauf, krank zu sein. Sie würde ein Attest bringen. Schließlich gab Anton Hagen Ruhe. Okay. Aber brächte sie kein Attest, sei sie wirklich arbeitslos. Katrin lachte erneut. Prima. Sie gehörte sowieso in die Gosse! Erschöpft legte sie den Hörer auf und ging zu ihrem Hamster.

„Cooky, mein Süßer!“ Liebevoll gab sie ihm Futter und streichelte ihn. „Ich liebe dich, süßes Murcksi.“

Dann legte sie sich zurück in ihr Bett, zog ihre Decke über den Kopf. Sie wollte mit niemandem sprechen, niemanden hören, niemanden sehen. Sie wollte einfach ganz alleine sein und nicht daran denken, irgendwann aufstehen zu müssen. Sie fühlte die Depressionen heranschleichen, wie sie jetzt Besitz von ihr ergriffen und sie schwach und hilflos machten. Irgendwann würden sie über ihre Leichtigkeit siegen und sie würde nicht wissen, warum sie den Kampf gewonnen hatten. Gestern war sie noch unbeschwert gewesen, heute aber war sie ganz unten auf dem Meeresgrund angelangt, tiefer ging es nicht mehr, ohne Antrieb jemals wieder über Wasser zu schwimmen. Sie vernahm, dass das Telefon erneut bimmelte. Sie wollte nicht. Sie ging nicht dran. Aber es war Tom, der auf den AB sprach.

Also quälte sie sich erneut aus dem Bett und verspürte eine kribbelnde Aufregung in sich hochkommen. Oh, Gott. Bitte nicht. Nicht schon wieder verlieben, dachte sie nur. Das hielt sie nicht aus. Ihr Körper machte nicht mehr mit. Nicht schon wieder chronischen Schlafmangel erleiden, Botenstoffe, die Pingpong spielten, grübeln über jede Kleinigkeit ...

„Tom?“

„Katrin. Wollt nur hören, wie’s dir geht? Nach gestern.“

„Supi. Echt Supi. Aber bitte ... Lass uns die Wunden nicht mehr aufkratzen. Ruf mich nicht mehr an, ja?“

Tom schluckte. Er hasste mittlerweile dieses „supi“. „Mmh. Also, mir geht’s nicht so gut“, sagte er ehrlich. „Bitte. Ich möchte dich noch mal wiedersehen.“

Katrin antwortete nicht.

Tom gab sich Mühe. „Ich hab dich gesehen. Damals. In der Brehmstraße. Wie du geübt hast. Den Flip. Und den Rittberger.“

Katrin erstarrte. „Ich kann nicht. Du machst mir Angst.“ Sie legte einfach auf.

Tom war nicht überrascht. Sie war so, wie er sie sich vorgestellt hatte. Sie war Feuer, Leidenschaft und hatte eine tiefe Seele. Aber sie mochte ihn nicht. Vielleicht hatte sie auch wirklich nur Angst. Er musste sie verstehen. Sie hatte mit Maik abgeschlossen. Und da kam er und brach alles wieder auf. War er nicht ungeheuer egoistisch? Er wollte seinem Bruder noch ein Mal näherkommen, aber sie nicht. Er konnte sie nicht zwingen. Oder war Maik nur ein Vorwand und es ging ihm im Grunde nur um sie?

Katrin verkroch sich unter ihrer Decke. Sie fühlte, dass Tom sie nicht loslassen wollte. Aber er war keine Klette. Soweit glaubte sie, ihn bereits einschätzen zu können. Sein Klammern musste andere Gründe haben. Und sie merkte zugleich, jetzt klammerte sie sich an einer Vorstellung von Tom fest. Egal, dachte sie. Hauptsache, sie konnte den Depressionen etwas entgegensetzen.

 

(...)

 

Katrin sah sich im Spiegel an. Sie dachte nur noch an eins. Sie musste ihre Unschuld beweisen. Niemand durfte so über sie denken. Sie war kein schlechter Mensch. Doch wenn sie es nicht schaffte ...? Nicht auszudenken. Aber mit so einer Belastung wollte sie auch nicht mehr weiter leben. Sie sah ihre traurigen Augen, die tiefen Ringe darunter. Sie hatte einen Schock gehabt, ein Trauma, eine Amnesie. Und sie überlegte, ob es nicht doch eine winzige Möglichkeit geben könnte – sie wendete sich vom Spiegel ab –, dass sie doch eine Mitschuld an Maiks Tod trug?

 

Überlebensschuld, dachte Tom und sah aus dem Auto, das er fuhr. Da vorne war schon der Friedhof. Auf der Rückbank saßen seine Eltern. Er konnte gar nicht glauben, dass die beiden immer noch verliebt ineinander waren. Er betrachtete sie im Rückspiegel. Seine Mutter sah müde aus. Die beiden hielten bestimmt wieder Händchen wie zwei Teenager. Tom dachte an die Tsunamiopfer und die Überlebenden. An Eschede und die Überlebenden. Fukushima. Es gab immer schlimme Unglücke, Tote, aber es gab auch die Überlebenden. Wie würde ein Mensch ohne Schuld auf die Behauptung, einen anderen Menschen auf dem Gewissen zu haben, reagieren? So wie Katrin? Oder würde ein gesunder Mensch, ohne Schuld, nicht cool über solchen Worten stehen? Oder war Katrin ein Mensch mit Überlebensschuld?

Er selber hatte das mit damals verdrängt. Vor dieser Disko. Tom sah seinen Vater Hans an. Er musste sich bei Katrin entschuldigen. Aber was, wenn sie wirklich auch schuldig war? Sein Vater hatte sein Kind verloren, er seinen Bruder, der immer Vaters Liebling gewesen war. Tom traten Tränen in die Augen. Vielleicht stimmte ja auch mit ihm etwas nicht? Hatte er seinen Bruder nicht viel zu oft gehasst? Und jetzt das mit Katrin. Er war ja fast schon wie besessen von ihr. War er nicht immer hinter den Frauen her gewesen, die sein Bruder gut fand? Oder war es nur bei Katrin so?

„Papa“, brachte er hervor. „Du musst dich bei Katrin entschuldigen.“

Hans sah ihn an, als sei er nicht ganz bei Trost. „Wenn du jetzt auch noch mit dieser Frau anfängst, sind wir sehr bald schon wieder geschiedene Leute.“

Maria war ganz still. Tom wusste, was seine Mutter dachte. Ein Unwetter hatte sich zusammengebraut, kaum war er wieder da. Dabei war alles so friedlich die letzten Jahre bei ihnen gewesen. Seine Mutter hatte ihr kleines Mädchen Lena heranwachsen sehen, ihre ganze Liebe auf sie konzentriert. Um zu vergessen. Tom verstand das. Nachdem Maik tot war, gab es für seine Mutter nur noch ein Ziel, nämlich noch ein Mal schwanger zu werden. Sie wollte vergessen. Und wie gelingt so etwas am besten? Natürlich mit einem neuen Kind. Dass es dann auch noch ein Mädchen wurde, machte die Sache rund. Auch deswegen war er weggegangen. Es gab für ihn keinen Platz mehr in der Familie.

 

(...)